Interview von Juma-Lehrerin Ursula Schäublin mit unserem ehemaligen Schüler Reza

Ganzes Interview zum Text im aktuellen Jahresmagazin (24/25)

Ich war beeindruckt und berührt, wie offen der ehemalige SAH-Schüler Reza den Juma-Kursteilnehmenden von seinem Weg in die Ausbildung als FaGe erzählte. Er sprach auch über das, was nicht so einfach war für ihn nach seinem Neuanfang 2016 als afghanischer Flüchtling in der Schweiz. Eine Vorlehre im Altenheim wollte der ambitionierte junge Afghane nie machen. Ein Medizinstudium, um im OP arbeiten zu können – davon träumte er. Dass Reza seine Arbeit mit den betagten Menschen im Seniorenheim Schleitheim liebte, spürten wir als Zuhörerinnen und Zuhörer. Genau richtig sei der Rat seines Chefs gewesen, doch mit der Vorlehre zu beginnen. Er ermutigte seine Kolleginnen und Kollegen zu kleinen realistischen Schritten, um die grösseren Ziele zu erreichen. Das war 2021.

Wie geht es Reza heute? Was hat ihm geholfen, seinen Weg hier in der Schweiz zu finden? Vor mir sitzt der heute 27-Jährige nach einem langen Arbeitstag im OP des Kantonsspitals Schaffhausen. Im August schliesst er sein HF-Studium als Fachmann Operationstechnik ab. Ich bin gespannt auf unser Gespräch.

  1. Reza, die wichtigste Frage gleich zuerst: Wie geht es dir heute?

Sehr gut. Wirklich. Muss ich sagen. Ich fühle mich integriert. Ich bin integriert. Ich kann die Sprache. Ich fühle mich wohl bei der Arbeit. Ich fühle mich ernst genommen, wahrgenommen.

  1. Wie spürst du, dass du integriert bist?

Wenn man neu in die Berufswelt kommt, kennt man die ungeschriebenen Gesetze nicht. Man hat zu wenig Themen, die man mit den Arbeitskollegen diskutieren kann. Und da spürt man, dass man so ein bisschen auf die Seite geschoben wird. Aber, wenn man sich integriert, wenn man sich so ein bisschen als Teil der Gesellschaft fühlt, kriegt man viel mehr mit. Man weiss, was gerade im Kanton los ist oder was es heisst, wenn die Feste kommen. Was mache ich da genau? Wenn man diese Sachen ein bisschen kennt, dann wird man auch besser wahrgenommen und ernst genommen.

  1. Du bist FaGe und machst jetzt das HF-Studium zum Fachmann Operationstechnik. Hattest du schon in Afghanistan den Wunsch, in einem medizinischen Beruf zu arbeiten?

Dieser Wunsch hat sich auf meinem Fluchtweg entwickelt. Vorher haben mich eher technische Berufe interessiert. Aber auf meiner Flucht habe ich gesehen, wie man die Geflüchteten in Griechenland unterstützt. Welche Leistung da gebracht wird. Und zwar von Freiwilligen. In den Asyl-Unterkünften habe ich die überall gesehen. Dann hab’ ich mir gesagt: Ich bin jetzt hier in dieser Gesellschaft. Ich muss etwas leisten, dass ich auch sozial zurückzahlen kann. Für die Gesellschaft. Dann kam dieser Wunsch nach Medizin, danach, Menschen zu helfen.

  1. Du hast die Ausbildung als FaGe EFZ sehr gut abgeschlossen und machst jetzt ein HF-Studium. Das ist eine grosse Leistung. Was sind deine persönlichen Erfolgsfaktoren?

Also das A und O ist die Sprache. Auf Persisch sagen wir: Die Sprache ist der Königsschlüssel. Wenn du die Sprache nicht richtig beherrschst, wie willst du dich dann beweisen?

Zweitens, die Kultur annehmen. Ich lebe in dieser Gesellschaft und ich will mich in dieser Kultur zurechtfinden.

Drittens, einem muss bewusst sein, ich bin hier zum Leben. Und wenn man hier zum Leben ist, braucht man Sprache und Kultur. Wenn man das kapiert und denkt: Okay, ich will das.

Und viertens: Einfach loslegen. Loslegen und nicht abwarten. Nicht mit anderen Sachen beschäftigen. Was hat Priorität? Was ist wichtig? Man kann nicht alles haben. Lehrjahre sind die schwierigsten Jahre.

Ganz wichtig sind dabei realistische “smarte” Ziele. Ich habe auch gelernt, dass ich nicht denken kann: Hier bin ich. Ich habe B1 und will Medizin studieren. Kleinere Schritte. Kleinere Zwischenziele. Ich wollte in den Operationssaal. Ein Medizinstudium war kein realistisches Ziel. Ich habe einen anderen Weg gefunden. Heute arbeite ich als OTA im Operationssaal. Natürlich hat das mich neun Jahre gekostet. Aber schliesslich habe ich erreicht, was ich will.

  1. Was hat dir geholfen, so fliessend Deutsch sprechen zu lernen?

Viele sagen zu mir: Du bist ein Sprach-Genie. Nein, ich bin kein Sprach-Genie. Aber ich geb mir Mühe.

Als ich am SAH war, habe ich zum Teil 14 – 15 Stunden am Tag gelernt. Aufgaben gemacht. Nachrichten in der Zeitung gelesen. Gelerntes wiederholt.

Und Kontakte. Im Juma-Kurs am SAH waren wir eine Gruppe Kollegen und wir beschlossen, miteinander nur deutsch zu sprechen. Einer war aus Syrien, einer aus Italien, einer aus Eritrea, einer aus Tibet und einer aus dem Iran. Egal, damals war es kein perfektes Deutsch. Aber es hat uns geholfen, uns gegenseitig zu korrigieren und zu unterstützen. Einfach als Freunde. Diese Freunde habe ich immer noch. Die sprechen heute alle perfekt Deutsch.

Und nach dem SAH in der Berufswelt: Kontakt mit Menschen. Einfach Kontakt aufnehmen und reden.

Ich habe mit meinen Schulkollegen am BBZ geplaudert. Wir haben uns mal nach der Schule oder am Wochenende getroffen. Das unterstützt einen.

Und bei der Arbeit offen sein, wenn jemand mit einem redet. Und nicht nur einfach mit Ja und Nein antworten. Sich einfach was zutrauen und reden. Egal, ob es falsch ist. Reden. Und Freunde finden. Ich habe meinen Schulkollegen auch später beim Schweizerdeutschlernen immer gesagt: Bitte, korrigiert mich.

Wenn ich irgendetwas komisch sage oder ausspreche, seid so lieb und sagt es mir.

Interesse haben, Fragen stellen. diskutieren. Einmal schauen, was läuft. Was ist jetzt aktuell Thema? Wie kann ich ins Gespräch kommen mit den Leuten? Wenn man mit den Jungs unterwegs ist, und die reden über irgendeine Musik, über irgendein Game oder Spiel, wo man keine Ahnung hat. Das ist mega schwierig. Ich habe dann gesagt: Hey, das kenne ich nicht. Wie funktioniert das? Zeig’s mir. Oder bei Musik: Lass es doch mal laufen. Man kann immer Fragen stellen, wenn man was nicht kennt oder etwas nicht weiss. Man soll sich nicht schämen und denken, das weiß ich nicht, ich kann nicht reden. Nein, einfach fragen. Die erklären mega gern

  1. Welche formalen Schritte haben dir auf deinem beruflichen Weg geholfen?

Das SAH war der Start für mich. Das erste Sprungbrett. Ich habe die Zeit am SAH wirklich genutzt und genossen. Wir haben ja nicht nur Deutsch gelernt, sondern auch über aktuelle Themen diskutiert. Über Wahlen, über Parlament, über Stadtrat, über Kantonsrat, über Gemeinden. Im Fach Sozialinformation im Juma-Kurs habe ich viele Informationen bekommen, die ich dann nachher gebraucht habe. Also uns, die hier neu sind und die Gesellschaft kennen lernen und hier leben wollen, bringt der allgemeinbildende Unterricht extrem weiter. Oder auch das Juma-Fach Medien und Informatik. Wir haben Bewerbungsschreiben gelernt. Das kann ich jetzt.

Die Informationen für meine beruflichen Entscheidungen habe ich vor allem durch Recherchen auf der BIZ-Webseite erhalten.

  1. Hast du nach dem Juma- Kurs noch andere Angebote vom SAH genutzt?

Ich habe die Ausbildung als interkultureller Dolmetscher beim SAH gemacht. Das war auch nochmal sehr gut für mein Deutsch. Man vergleicht die Sprachen. Man lernt interkulturelle Sachen. Ich bin auf der Dolmetscherliste des SAH und dolmetsche gerne, aber habe leider wenig Zeit dafür

  1. Dein Studium und deine Arbeit sind sehr beanspruchend. Wie findest du deinen Ausgleich?

Bewusst Zeit für mich nehmen. Einen Plan haben und wissen, was ich wann tue. Jetzt ist Pause. Jetzt mache ich nichts. Und jetzt muss ich lernen. Und das hat mir die Schweiz beigebracht: Trennen. Privat, Freundschaft, Arbeit.

  1. Was gibt dir in deinem Leben Kraft?

An erster Stelle gibt mir natürlich meine Familie Kraft. Das würde jeder Afghane sagen.

An zweiter Stelle sind es die Ziele, die ich habe. Das bringt mich weiter. Denn ich will nicht immer einfach der sein, der rumsitzt und akzeptiert, was er kriegt. Sondern ich will immer mehr – nicht geschenkt, sondern mit meiner Kraft und meinem Ehrgeiz erreichen. Und drittens, dass die Entscheidung bei mir liegt. Ich kann jederzeit aufhören. Ich kann jederzeit weitermachen. Viele denken, das und das muss ich machen. Du musst gar nichts. Die Entscheidung liegt bei dir.

  1. Wir sind fast am Ende des Interviews. Reza, was ist dir noch wichtig?

Wichtig ist für mich die Dankbarkeit. Wirklich. die Leistung, die das SAH bringt, die Leistung, die der Staat bringt, das Sozialamt, Integration, integres… Man muss wirklich dankbar sein. Man darf nicht denken, okay, die sind da für mich. Die müssen für mich schaffen. Nein, das müssen sie nicht. Aber sie machen es. Und ich bin dankbar.

Und das SAH ist für mich mein Zuhause. Ich bin dem SAH extrem dankbar. Ich hoffe, dass das Interview hilft und ermutigt.

Zuletzt bitte ich alle, die das lesen: Fragt, fragt, fragt! Wenn du etwas nicht weisst, frage! Lauf nicht blind weiter. Fragt Leute, von denen ihr sicher seid, dass sie euch helfen können. Haltet euch nicht mit falschen Informationen auf.

Ganz herzlichen Dank für dieses Interview, Reza, und weiterhin viel Erfolg!